Text der Predigt am Sonntag, den 25. Oktober

PREDIGT zu Markus 2, 23-28

Und es begab sich, dass Jesus am Sabbat durch die Kornfelder ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen. 24 Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist? 25 Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, da er Mangel hatte und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: 26 wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit des Hohenpriesters Abjatar und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren? 27 Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. 28 So ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat.

Liebe Gemeinde,

über Sinn und Unsinn von Regeln haben wir in den letzten Corona-Monaten ganz schön viel diskutiert. Und ich glaube, wir haben dabei wirklich begriffen, wie wichtig gute Maßnahmen und Regeln sind, um dieser gemeinsamen Gefahr der Pandemie die Stirn bieten zu können. Allerdings, ob die aktuell beschlossenen Regeln wirklich greifen bzw. reichen, das müssen wir noch sehen. Aber ohne sie würde es bei uns auf jeden Fall schon längst ganz anders aussehen mit den Infiziertenzahlen und den zu beklagenden Toten.

Aber es ist natürlich auch so, dass nicht jede Regel, die uns in letzter Zeit verordnet worden ist, allen gleich wichtig oder sinnvoll erschien. Ja, manche sehen überhaupt nicht ein, worum man sich an Regeln halten soll, die MEINE persönliche Freiheit einschränken.

Und auch diese Frage wurde immer wieder diskutiert: Wer darf eigentlich die Regeln bestimmen? Gerade jetzt ist das ja so eine große Frage geworden: Darf das die Bundesregierung oder dürfen das die Ministerpräsidenten ganz einfach so von oben nach unten bestimmen? Oder müssten diese Angelegenheiten nicht zuerst viel breiter diskutiert werden, also mindestens auch im demokratisch gewählten Bundestag oder in den Landtagen?

Und dann gibt es schließlich auch noch eine andere häufig diskutierte Frage: Auf wen sollen eigentlich diejenigen hören, die die Regeln machen? Auf die Virologen und das RKI? Oder auf andere wissenschaftliche Teilbereiche - Soziologen, Psychologen, Epidemiologen? Oder doch lieber auf die Wirtschaftsbosse? Oder auf die Ethikkommission? Oder gar die Querdenker? Alle wollen mitreden und wissen etwas, und so ist es nicht leicht, schließlich ausgewogene Entscheidungen zu fällen.

Momentan ist da auf jeden Fall in Bezug auf die Coronaregeln ganz schön viel im Fluss und wir lernen dabei auch, dass Regeln in der Regel keine für die Ewigkeit aufgestellten steinernen Monumente sind, sondern dass sie immer wieder neu dem Zweck und dem Ziel des Ganzen angepasst werden müssen.

Ja, und mit diesen Gedanken bewegen wir uns schon direkt auf das Thema unseres heutigen Predigttextes zu. Dort geht es nämlich auch um die Gültigkeit von Regeln, bzw. Geboten und inwiefern diese Gebote auch hinterfragt werden dürfen - ja sogar übertreten.

Schauen wir uns die Regel an, um die es zentral in unserem Bibeltext geht. Es ist das Sabbatgebot.
Exodus 20, Vers 9 "Sechs Tage sollst du arbeiten, aber am siebenten Tag ist der Sabbat des Herrn, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun."

Im Kirchlichen Unterricht mache ich beim Behandeln der 10 Gebote immer so eine kleine Übung. Die Jugendlichen sollen eine Rangfolge aufstellen, welche Gebote sie wichtig finden und welche weniger wichtig. Und da landet das dritte Gebot, also das Feiertagsgebots, fast immer auf einem der letzen Plätze. Für uns heute hat dieses Gebot also scheinbar nur noch sehr geringe Bedeutung. Aber wir müssen uns bewusst machen: für die Juden damals war das Sabbatgebot eines der absolut wichtigsten Gebote. Denn es stand für sie nicht nur für ein religiöses oder soziales Verhalten, sondern es war im Laufe ihrer Geschichte das zentrale Zeichen ihrer nationalen Identität geworden - das zentrale Zeichen ihrer Volks- und Glaubenszugehörigkeit. Im Exil in Babylon hat sich das Sabbat-Halten zum Bekenntniszeichen der Juden entwickelt. Und diese Bekenntnis-Bedeutung behielt dann das Gebot durch alle Zeiten hindurch. Es wurden ganze Kriege verloren, weil sich die Juden weigerten, am Sabbat zu kämpfen. Und als die Römer merkten, wie wichtig es den Juden mit ihrem Sabbat ist, durften sie als einziges unter allen eroberten Völkern am Sabbat frei machen. Und machen wir uns bewusst: Erst das Judentum hat den Freien Tag eingeführt. Ohne den Sabbat gäbe es wohl auch bei uns nicht den Sonntag, der sogar in unserem Grundgesetz in Artikel 140 als Tag der „Arbeitsruhe“ und der „seelischen Erhebung“ als Grundrecht garantiert ist.
Langer Rede, kurzer Sinn: Das Sabbatgebot war und ist also eines der wichtigsten Gebote für Juden.

Und jetzt stellen wir uns vor, wie Jesus mit seinen Jüngern dieses hochheilige Sabbatgebot einfach brach. Und gar nicht mal in einer außergewöhnlichen Notlage. Es gab jüdische Theologen, die konnten es sich sehr wohl vorstellen, dass es erlaubt ist, auch an einem Sabbat einen Menschen aus einer akuten Lebensgefahr herauszuhelfen. Aber handelsüblicher Hunger gehörte zu diesen Ausnahmegründen nicht dazu. Jesu Verhalten muss also eine richtige Provokation für einen strenggläubigen Juden gewesen sein.

Stellen wir uns vor: Da gab es damals Leute, die aus lauter Angst, irgendetwas gegenüber Gott falsch machen zu können, sich darüber den Kopf zerbrachen, ob man ein Ei essen darf, das am Sabbat gelegt worden war. Oder ein anderes Beispiel: In der besonders frommen Sekte in Qumran war es sogar verboten gewesen, am Sabbat auf´s Klo zu gehen, ob groß oder klein weiß ich nicht, aber ich nehme mal an, da war nur das Groß gemeint. Anders geht das ja gar nicht.

Und jetzt stellen wir uns dagegen vor, wie lässig Jesus mit seinen Jüngern am Sabbat durch die Felder schlendert und Ähren ausrauft. Das war komplett anstößig. Zum einen war es verboten, am Sabbat mehr als 2000 Schritte zu gehen, zum anderen galt Ährenausraufen als Erntearbeit und das war am Sabbat ein absolutes NoGo. Es muss einem deshalb nicht verwundern, dass sich die Geistlichen damals über Jesus und seine Jünger fürchterlich aufregten.

Interessant ist nun, wie Jesus auf ihre Empörung reagierte: Er argumentierte biblisch. Er war ja schließlich ein Rabbi. Und Rabbis argumentieren mit Bibelwort gegen Bibelwort. Und so wies Jesus auf die biblische Geschichte von König David hin, der auf der Flucht war und der damals mit seinen Gefährten großen Hunger litt. Und David besaß in seiner Notlage dann die Unverfrorenheit, die Priester zu bitten, ihm die Schaubrote des Tempels zum Verzehr zu überlassen. Diese Schaubrote waren einzig und allein als Opfer für Gott gedacht und durften deshalb nur von den Priestern verzehrt werden. Und so war das also wirklich ein starkes Stück gewesen, dass David diese Brote gewissermaßen Gott wegnahm, um die knurrenden Mägen von sich selbst und seine Gefährten zu füllen.
Diese Episode erzählte Jesus also als Entgegnung auf den Vorwurf der Pharisäer, dass er und seine Jünger den Sabbat gebrochen hatten. Merken wir es? Diese Geschichte hat ja gar nichts mit dem Sabbat zu tun. Der Vergleichspunkt zu dem, was Jesus getan hatte, liegt wo ganz anders. 4 Aspekte:

Der erste Vergleichs-Punkt lautet schlicht und einfach: Auch König David, unser großes Vorbild im Glauben, hat Dinge getan, die - streng biblisch gesehen - gegen die Anordnungen Gottes verstoßen haben.

Der zweite Vergleichspunkt: Warum hat der große David Regeln gebrochen und Dinge getan, bei denen einem fast die Haare zu Berge stehen? Weil die Not und der Hunger ihn zu dieser Ausnahme gezwungen haben. Merke: Das war eine Ausnahme gewesen. David hatte ja mit seinem Verhalten die Opfergabe der Schaubrote nicht grundsätzlich als ungültig erklärt und damit gewissermaßen gesagt: Ab sofort könnt Ihr alle den Tempel stürmen und die Schaubrote wegfuttern. Die göttliche Regel wurde nicht aufgehoben. Doch Ausnahmen muss es immer geben. Not und Hunger sind solche Gründe dafür.

Der dritte Vergleichspunkt: David besaß schlicht und einfach die Autorität, so etwas zu tun. Nicht jeder hat diese Vollmacht. Ich mach da mal ein Beispiel: Natürlich gilt, dass wir alle brav mit unserem Auto vor einer roten Ampel stehenbleiben. Allerdings kann der Krankenwagen oder die Polizei oder die Feuerwehr bei eingeschaltetem Blaulicht die Kreuzung auch bei Rot überfahren, wenn Not in Verzug ist. In Fällen, wo es um Leben und Tod geht, haben sie Gott sei Dank die staatliche Ermächtigung, das Rot-Haltegebot zeitweise außer Kraft zu setzen. Sie heben das Gebot damit nicht grundsätzlich auf und machen die Ampeln überflüssig, sondern sie besitzen die Autorität, das Gebot in einem begründeten Fall zu übertreten.
Und genau diese Autorität hatte David für sich beansprucht. Als tiefgläubiger Mann in einer Notlage auch gegen ein frommes Gebot verstoßen zu dürfen. Niemand drehte ja David im Nachhinein einen Strick aus seinem Verhalten. Warum? Ganz einfach, weil man eben ihm als dem großen Gottesmann gerne diese starke Autorität beimaß.
Hatte Jesus nicht mindestens dieselbe Autorität? War er nicht derjenige, der als Sohn Gottes erst recht Herr über das Sabbatgebot war? Er, der vollmächtig in der Bergpredigt sagte: "Ihr habt gehört, dass euch gesagt worden ist... ICH aber sage euch".
Der dritte Vergleichspunkt zu David ist also Jesu Autorität.

Und schließlich der vierte Vergleichspunkt. David hat als Anführer für seine notleidenden Gefährten gehandelt und gesorgt. Jesus hat das Gleiche für seine Jünger getan. Interessanterweise steht im Evangeliumstext gar nicht drin, dass Jesus selbst die Ähren ausgerauft hatte, sondern nur von den Jüngern wird das erzählt. Aber Jesus verteidigte sie später vor den Pharisäern.
Jesus übertrat immer wieder das Sabbatgebot. Aber er tat das immer nur, um Menschen aus ihrer Not zu helfen und sie zu heilen. Es war die Nächstenliebe, die ihn allein bewegte, ein Gebot Gottes zu übertreten. Jesus tat das immer für andere, nie für sich selbst.
Und ich möchte dieses Kennzeichen des Verhaltens Jesu auch noch einmal ganz bewusst für uns persönlich zuspitzen: Wir sind schließlich Jüngerinnen und Jünger Jesu, seine Freunde. Jesus würde auch für dich und für mich alles tun, wenn wir in Not sind. Was heißt "würde"... Jesus tut für uns alles, um uns in unserer Not zu helfen. Er hat sogar sein Leben für uns dahingegeben.

So, und durch diese biblische Episode von David, die Jesus den Pharisäern entgegnet hatte, sind wir eigentlich schon dem ziemlich gut auf die Spur gekommen, was Jesus uns zeigen will über den rechten Umgang mit Gottes Geboten. Diese Regeln sind absolut gut und richtig und Jesu Absicht war es nie gewesen, sie als Spielregeln für ein gelingendes Leben außer Kraft zu setzen. Aber da gab und gibt es immer auch begründete Ausnahmesituationen, wo es eben sogar geboten sein kann, ein Gebot zu übertreten oder gar außer Kraft zu setzen.

Und diese Haltung bringt Jesus dann auf den Punkt mit dem steilen, ja fast revolutionär klingenden Satz:
"Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen." Dieser Satz hat schon ganz schöne Sprengkraft. Denn man muss verstehen, dass es hier eigentlich nicht nur um das Sabbatgebot geht, sondern um alle Gottesgebote und biblischen Normen. Und für alle gilt: Sie sind als eine gutgemeinte Hilfe für uns Menschen gemacht und nicht wir Menschen für sie. Sie sind keine Götter, denen wir blindlings dienen müssen. Und sie sind auch keine Heilswege. Durch deren Einhalten wir uns ein Lob Gottes oder gar das ewige Leben verdienen müssten. Nein, die Gebote sind so etwas wie ein Geländer für den Weg, auf dem wir ein gelingendes Leben finden. Aber es kann eben auch passieren, dass sie in der einen oder anderen Situation genau diesem gelingenden Leben und der Liebe im Weg stehen, und dann kann es sogar geboten sein, dass man sie übertreten muss.

"Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen." Es gibt Fälle, da darf man den Sabbat brechen. Hoffentlich tut das jede Krankenschwester beim Wochenenddienst mit gutem Gewissen. Und es gibt Fälle, da soll man auch Vater und Mutter nicht ehren. Jesus selbst hat das so getan und sich seiner Familie entzogen, als diese ihn von seinem Auftrag abbringen wollte. Es gibt sogar Fälle, da muss man vielleicht sogar töten. Bei so einem Satz stehen zwar einem ehemaligen Wehrdienstverweigerer wie mir die Haare zu Berge. Aber es gibt solche komplexen Situationen, wo man, egal was man tut, etwas Falsches tut. Denken wir an das Hitlerattentat. Es ist falsch, den Tyrannen zu ermorden, aber es ist genauso falsch, dem tausendfachen Morden des Tyrannen tatenlos zuzusehen.

Gebote haben von Gott ein oberstes Ziel: Sie wollen uns Menschen zu einem gelingenden Leben helfen. Und diesem Ziel haben sie zu dienen. Und deshalb ist es gut, dass Jesus uns die Freiheit und die Verantwortung zumutet, Gebote im Lichte dieses Zieles immer neu zu bewerten.
Jesus hat deshalb ein klares Regulativ über die Gebote gestellt: In Matthäus 22, 37-40 sagt er: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Gemüt« (5. Mose 6,5). 38 Dies ist das höchste und erste Gebot. 39 Das andere aber ist dem gleich: »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« (3. Mose 19,18). 40 In diesen beiden Geboten hängt das ganze Gesetz und die Propheten.
Und Paulus fasst diese Wertung von Jesus noch akzentuierter zusammen: "So ist nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung." (Römer 13,10) Oder wie es dann 300 Jahre später der Kirchenvater Augustinus auf den Punkt brachte: "Liebe und tu, was du willst."

Noch einmal: Diese Regulierungen und Relativierungen der Gebote wollen die Gebote nicht außer Kraft setzen. Genauso wenig wie der bei Rot über die Kreuzung fahrende Rettungswagen unsere Ampelregelungen außer Kraft setzt. Nein, sondern diese Relativierungen muten uns die Freiheit und die Verantwortung zu, immer wieder neu ein einzelnes Gebot im Lichte der Liebe und der Menschlichkeit zu bewerten.

Regeln sind wichtig und gut. Erst recht gilt das für die biblischen Gebote. Doch Jesus hat uns in seiner Autorität die Augen dafür geöffnet, dass sie dort hinterfragt oder gar übertreten werden müssen, wo sie der Liebe und der Menschlichkeit im Weg stehen.
Und so schließt unser Predigttext mit dem Jesuswort: So ist der Menschensohn Herr auch über den Sabbat.

Es ist nicht so klar, was Jesus mit diesem Schlusssatz gemeint hat. Wer ist dieser "Menschensohn", der Herr über den Sabbat ist?

Es gibt Ausleger, die deuten diesen Begriff hier so, dass Jesus damit alle Menschensöhne und -töchter gemeint hat. Dass Jesus also uns allen zumutet, selbstverantwortlich mit dem Sabbatgebot und den biblischen Normen umzugehen.

Es gibt aber auch Ausleger, die lesen diesen Satz als eine Selbstaussage von Jesus. Denn dieser Begriff "Menschensohn" war auch so etwas wie eine Umschreibung für den kommenden Messias aus dem Danielbuch. Jesus hat damit also hier konkret gesagt: "Ich bin der Herr über den Sabbat." Diesen Auslegern folge ich. Jesus hat m.E. mit diesem Wort noch einmal seine göttliche Legitimation unterstrichen gegenüber der Auslegungstradition des alten Bundes, dem die Pharisäer und Schriftgelehrten anhingen. Durch Jesus beginnt ein neues Verständnis der Gebote und vor allen Dingen von der Heilsbedeutung des Gesetzes. Jesus sagt: "Ich bin der Herr". Nicht das penible Einhalten des Gesetzes ist der Weg zum Heil, sondern er selbst, der menschgewordene Gottessohn ist der Weg, die Wahrheit und das Leben.

Gott sei Dank, hat uns Jesus diesen neuen Weg und diese neue Sicht eröffnet. Lasst uns daran festhalten. In IHM finden wir das wahre Leben - jetzt und in alle Ewigkeit. Amen

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